Die Lebensuhr
von Corinna Seeberger
Es ist
Sonntag. Sonntag, der 05.03., der Tag von Jakobs sechstem Geburtstag. Wie jedes
Jahr fährt er zusammen mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester am
Nachmittag seines Geburtstags zu seinen Großeltern. Dort gibt es den besten
Marmorkuchen der Welt – von seiner Oma selbstgebacken – und dazu eine heiße
Schokolade. Darauf freut sich Jakob jedes Mal. Danach darf er immer bei seinem
Opa auf dem Schoß sitzen, er erzählt ihm dann wilde Abenteuergeschichten,
während Jakob sein Geburtstagsgeschenk auspackt. Dieses Jahr ist Jakob sehr
aufgeregt – noch mehr als sonst, denn sein Opa hatte am Telephon bereits
angedeutet, dass er dieses Mal etwas ganz besonderes bekommen wird. Was, das
sein sollte, hatte ihm sein Opa natürlich nicht verraten wollen.
Kaum waren sie also angekommen, sprang Jakob aus dem
Auto und lief eiligst auf das Haus seiner Großeltern zu. Seine Großeltern
erwarteten sie bereits. Nachdem sich alle begrüßt hatten, wurde Jakob von
seinem Großvater beiseite genommen. Jakob wunderte sich ein wenig und fragte
deshalb: „Gibt es nicht erst Kuchen und Kakao?“ „Nein, mein Großer, zuerst
müssen wir beide uns um etwas anderes kümmern. Komm mit, wir gehen in mein
Arbeitszimmer.“ Etwas verwirrt folgte ihm Jakob still schweigend ins
Arbeitszimmer. Dort wies ihm sein Opa einen Stuhl zu, der neben dem großen
Schreibtisch stand. Sein Opa setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und zog
eine Schublade auf. Ihr entnahm er eine kleine Schatulle. Diese reichte er dann
Jakob. „Na los,“ sagte sein Opa „mach das Ding mal auf!“ Das ließ sich Jakob
kein zweites Mal sagen, er öffnet vorsichtig die Schatulle, und daran lag eine
Uhr. Es war aber keine normale Armbanduhr, wie er sie von seinen Eltern und
anderen Erwachsenen her kannte. Nein, an dieser Uhr war eine lange Kette
befestigt. Jakob machte einen enttäuschten Gesichtsausdruck. „Eine Uhr? Und die
kann ich mir nicht mal ans Handgelenk machen. Das ist aber eine tolle Überraschung,“ dachte sich Jakob
im Stillen. Aber irgendwie musste sein Opa, seine Gedanken erraten haben. Er
lachte und sagte „Hahaha, so ein Gesicht muss ich wohl auch gemacht haben, als
mir mein Großvater vor über 60 Jahren diese Uhr geschenkt hatte.“ Und auf
einmal zog sein Opa an einer Kette, die an seinem Hosenbund befestigt war, und
angelte eine Uhr aus seiner Hosentasche, die Jakob zuvor noch nie gesehen
hatte. Sein Opa legte die beiden Uhren nebeneinander auf den Schreibtisch und
fragte Jakob: „Na, fällt Dir was auf?“ Jakob nahm die beiden Uhren genauer
unter die Lupe, und tatsächlich, in einer Sache schienen sich beide Uhren, die
ansonsten total gleich aussahen, zu unterscheiden. Die Zeigen der Uhr seines
Opas liefen viel, viel schneller im Kreis als die Zeiger seiner eigenen Uhr,
diese schienen dagegen kaum vom Fleck zu kommen. „Mhm,“ sagte Jakob „irgendwie
sind meine Zeiger wohl kaputt.“ „Wusst ich’s doch, dass dir das auffällt,“
sagte sein Opa und klopfte ihm dabei mit seiner großen Hand auf die Schulter.
„Weißt Du, Jakob, diese beiden Uhren sind keine gewöhnlichen Uhren, sie sind
auch keine Armbanduhren, nein, das hier sind Lebenstaschenuhren. Jeder und jede
in unserer Familie bekommt eine solche Uhr zum sechsten Geburtstag
geschenkt, sobald sie die Uhr lesen
können. Wenn deine Schwester Marlene sechs Jahre alt wird, werde ich ihr auch
eine solche Uhr schenken.“ „Eine Lebensuhr? Aber was hat das denn mit den
Zeigern zu tun?“ „Ja,“ sagte Opa „die Zeiger zeigen nicht die richtige Stunde
und Minutenzahl an, sondern die verstreichende Lebenszeit. Weißt Du, jetzt wo
Du sechs Jahre alt bist, kommt es Dir wahrscheinlich so vor, als würde die Zeit
kaum vergehen. Aber wenn Du einmal so alt sein wirst, wie ich dann vergeht die
Zeit wie im Flug. Deine Mama hat ebenfalls eine solche Uhr und Dein Cousin
Jochen auch. Ihre Uhren gehen schon ein bißchen schneller als deine aber noch
lange nicht so schnell wie meine.“
„Aber was nützt mir denn so eine Uhr?“ fragte Jakob
etwas verdutzt. „Tja, so eine Uhr soll dich immer wieder daran erinnern, wie
kostbar unsere Lebenszeit ist hier auf Erden. Denn wenn wir einmal nicht mehr
sein werden, wenn wir sterben, dann werden die Zeiger aufhören sich zu drehen.
Dann bleibt die Uhr stehen. Jetzt wirst Du in dieser Uhr vielleicht noch keinen
Nutzen sehen, aber je älter Du wirst, desto wichtiger wird sie für dich werden.
Denk an meine Worte!“ Dann gab sein Opa Jakob einen Kuss auf die Stirn, legte
Jakobs Uhr in die Schatulle zurück und überreichte sie Jakob, der sie in seine
Hosetaschen gleiten ließ. „Pass gut auf sie auf!“ ermahnte ihn sein Opa, „und
jetzt gibt’s endlich Kuchen und Kako.“